Veröffentlicht von: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, 78. Jahrgang 14. Juli 2025
In einer Zeit, die von wirtschaftlicher Unsicherheit und stetig wachsender finanzieller Komplexitat gepragt ist, ruckt das Bedurfnis nach Financial Wellbeing – dem Zustand des finanziellen Wohlbefindens,
finanzieller Klarheit, Stabilitat und Planungssicherheit – unweigerlich in den Mittelpunkt. Für Banken eröffnet sich hier nicht nur ein neues Betatigungsfeld, sondern auch eine immense Verantwortung, die weit über das traditionelle Produktangebot hinausgeht. Es geht darum, als entscheidender Akteur im Leben der Kunden
und als vorausschauender Arbeitgeber für die eigenen Beschäftigten zu agieren.
Warum Financial Wellbeing unverzichtbar ist
Financial Wellbeing beschreibt den Zustand, in dem eine Person sich finanziell abgesichert fühlt und die Freiheit besitzt, ihre gegenwärtigen und zukünftigen finanziellen Verpflichtungen souverän zu erfüllen und
finanzielle Entscheidungen zu treffen, die ein erfülltes Leben ermöglichen. Die vier Dimensionen dieses Wohlbefindens sind:
- Gegenwartssicherheit: die Fähigkeit, laufende Ausgaben zu decken,
- Zukunftsorientierung: Vertrauen in die eigene Altersvorsorge und langfristige Plane,
- Widerstandsfähigkeit: der souveräne Umgang mit finanziellen Schocks (zum Beispiel Jobverlust, Krankheit),
- Finanzielle Entscheidungsfreiheit: die Autonomie, personliche und familiäre Ziele zu realisieren.
Finanzielle Sorgen sind nachweislich eine der Hauptursachen fur Stress, Depressionen und physische Gesundheitsprobleme. Sie mindern die Produktivität, erhöhen das Krankheitsrisiko und erschweren die Zukunftsplanung. Für Unternehmen, insbesondere Banken, bedeutet dies: Die finanzielle Gesundheit der Mitarbeitenden ist ein direkter und bedeutender Wirtschaftsfaktor. Studien, so zum Beispiel von PwC, belegen,
dass finanzieller Stress zu Produktivitätsverlusten, Krankheitsausfallen und einer verminderten Mitarbeitermotivation führt. Wer hingegen in das finanzielle Wohlbefinden seiner Belegschaft, mithin in Financial Wellbeing oder Financial Wellness, investiert, starkt Mitarbeiterbindung und Arbeitgeberattraktivität erheblich.
Die DIN 77230: das Fundament gegen ,,Noise”
An dieser Stelle kommt die DIN 77230 ins Spiel – eine Norm, die eine objektive, neutrale und systematisch von Vertriebsinteressen freie Finanzanalyse von Privathaushalten ermoglicht und damit auch an den Kern von gelingendem Financial Wellbeing herangeht: die Klarheit uber die eigene finanzielle Situation.
Die DIN 77230 folgt einer klar strukturierten Logik und Vorgehensweise, um die finanzielle Situation privater Haushalte systematisch und nachvollziehbar zu analysieren. Ihr Ziel ist es, eine einheitliche und zugleich unmanipuliert kundenindividuelle und produktneutrale Grundlage für die Finanzberatung zu schaffen.
Das leistet die Norm durch die Festlegung unabdingbar notwendiger Prozessschritte: Zunachst werden alle relevanten Basisdaten des Haushalts erfasst etwa Einkommen, Ausgaben, bestehende Vertrage, Familienstand, Kinder, Wohnsituation und Vermogen. Die Datenaufnahme erfolgt standardisiert, um Vergleichbarkeit und Vollständigkeit zu sichern. Die für den einzelnen Privathaushalt als relevant ermittelten Finanzthemen werden priorisiert und in die Bedarfsstufen eingeordnet:
Bedarfsstufe 1: Sicherung des finanziellen Grundbedarfs,
Bedarfsstufe 2: Erhaltung des Lebensstandards,
Bedarfsstufe 3: Verbesserung des Lebensstandards.
Jedem einzelnen relevanten Finanzthema wird ein jeweils individuell fur jeden Kunden ermittelter quantitativer Orientierungswert zugeordnet. Der so entwickelten persönlichen und aus der individuellen Lebenssituation abgeleiteten Sollstellung kann jeder Verbraucher bereits vorhandene Absicherungen oder Sparprozesse gegenuberstellen und sich damit Transparenz über seine finanzielle Situation verschaffen.
Die DIN-Norm 77230 ist damit der Schlussel zur systematischen Schaffung eines Umfelds, das „Noise“ eliminiert. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman beschreibt in seinem wichtigen Buch „Noise: A Flaw in Human Judgement” (in deutscher Version „Noise: Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können”) die verheerenden Auswirkungen von unerwünschten Variationen und Zufalligkeiten in Urteilen und
Entscheidungen. Kahneman zeigt auf, wie „Noise“ – das unkontrollierbare Rauschen zu inkonsistenten und fehlerhaften Einschätzungen führt, selbst bei Experten.
Handlungsfelder für Banken
Die DIN 77230 ist explizit darauf ausgelegt und bestens geeignet, dieses „Noise” schon bei der Analyse der eigenen Finanzsituation, die eine Einnahmen-/ Ausgabenrechnung, eine Vermögensbilanz sowie eine detaillierte Finanzanalyse über alle Lebensbereiche umfasst, auszuschalten. Sie beseitigt „Noise“ bereits am Fundament. Dadurch schafft sie eine Verlasslichkeit und Vorhersehbarkeit, die fur das Erreichen von Financial Wellbeing unerlasslich ist. Sie gibt sowohl Finanzdienstleistern als auch Verbrauchern ein klares Gerust an die Hand,
um informierte, konsistente und somit bessere finanzielle Entscheidungen zu treffen und bei solchen Entscheidungen gut beraten zu können.
Banken sind prädestiniert, eine zentrale Rolle im Ökosystem des Financial Wellbeing einzunehmen. Sie sind nicht nur Anbieter von Produkten, sondern auch Begleiter und „Bildungsinstitutionen“. Sie haben das Potenzial, „Noise“ in den Finanzentscheidungen ihrer Kunden und Mitarbeiter maßgeblich zu reduzieren.
Für Kunden:
- Beratung neu denken: Wenn Banken sich dem Financial Wellbeing ihrer Kunden verpflichten, muss ihre klassische, produktfokussierte Finanzberatung einer ganzheitlichen Herangehensweise weichen, die die individuelle Lebenslage, das Finanzwissen und die Ziele der Kunden in den Mittelpunkt rückt – im besten Falle auf Grundlage der DIN 77230.
- Transparenz und Empowerment: Banken können Unsicherheiten abbauen, indem sie Produkte und Risiken verständlich erklären, realistische Budgetierungs- und Sparpläne ermöglichen und Kunden durch datenbasierte Empfehlung stärken.
- Digitale Assistenzsysteme: KI-gestützte Apps, die monatliche Budgets, Sparziele oder Notfallreserven analysieren und Handlungsempfehlungen geben, können ein wichtiges Werkzeug sein.
- Frühwarnsysteme bei Überschuldung: Durch die Analyse von Transaktionsdaten können Banken frühzeitig finanzielle Risiken erkennen und proaktiv agieren – durch gezielte Hinweise, Umschuldungsoptionen oder den Zugang zu externer Schuldnerberatung.
Für Mitarbeiter:
- Interne Bildungsprogramme: Auch Bankmitarbeiter profitieren von gezielten Trainings, finanziellen Gesundheitschecks und Coaching-Angeboten, um ihre persönlichen Finanzen zu optimieren.
- Benefits und Wellbeing-Programme: Finanzielle Gesundheit sollte integraler Bestandteil der unternehmensweiten Wellbeing-Strategie sein, inklusive betrieblicher Altersvorsorge, Notfallhilfen oder Zuschüssen zu Finanzberatungen.
- Offenheit für Gespräche: Ein Kulturwandel ist unerlasslich. Banken können den offenen Umgang mit finanziellen Herausforderungen fördern, beispielsweise durch Workshops oder Peer-Group-Programme.
Systematisches Vorgehen für Banken
Um ein Programm zur Starkung von Financial Wellbeing erfolgreich zu implementieren, ist ein systematisches Vorgehen entscheidend:
- Bedarfsanalyse: Umfragen, Datenanalysen und die Evaluation bestehender Angebote,
- Strategieentwicklung: Integration in die Unternehmensstrategie, Festlegung messbarer Ziele und Aufbau interdisziplinärer Teams,
- Angebotsgestaltung: Entwicklung von Tools, Zugang zu personlicher Beratung und Inhalten zu verschiedenen Lebensphasen,
- Kommunikation und Kultur: niedrig schwellige Sprache und Kanale, Storytelling und Führungskräfte als Vorbilder,
- Evaluation und Anpassung: laufendes Feedback, die Nutzung von KPIs wie Finanzstress und Produktnutzung sowie Diterative Anpassungszyklen.
Die Forderung von Financial Wellbeing ist keine bloße Wohltatigkeit, sondern schafft einen direkten Nutzen für Banken:
- Kundenzufriedenheit und Loyalität: Wer Kunden dabei hilft, ihr Leben finanziell besser zu organisieren, wird
zum langfristigen Partner. - Differenzierung am Markt: Financial Wellbeing kann ein starkes Alleinstellungsmerkmal in einem oft produktzentrierten Markt sein.
- Reputationsgewinn: Banken, die Verantwortung für die finanzielle Gesundheit der Gesellschaft übernehmen, stärken ihr Image als verantwortungsvolle Institutionen.
- Stärkeres Employer Branding: interne Programme fordern Engagement und Bindung der Beschäftigten – ein entscheidender Vorteil im Wettlauf um gute Fachkräfte.
Financial Wellness: Wegweiser zum Erfolg
Fur all das braucht es einen Trainingsplan für stressfreie Finanzentscheidungen, der detailliert und umfassend
erklart, wie Finanzberater und Finanzkunden die Prinzipien der DIN 77230 anwenden können, um nachhaltig „Noise“ in Finanzentscheidungen zu reduzieren und somit das finanzielle Wohlbefinden auf breiter Basis zu fordern – gleichsam ein Leitfaden zu mehr personlichem finanziellem Wohlbefinden.
Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz fordert nicht ohne Grund ein solches Projekt, das die Steigerung von Financial Literacy und Financial Wellbeing auf Grundlage der DIN 77230 zum Ziel hat. Damit unterstreicht das Ministerium dessen Dringlichkeit und den gesellschaftlichen Nutzen; die Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) berichtete zuerst.
Erhebliche neue Geschäftspotenziale
Financial Wellbeing ist kein vorubergehender Trend, sondern ein tiefgreifender struktureller Wandel in der Beziehung zwischen Bank und Mensch. Banken, die diesen Wandel aktiv gestalten, übernehmen nicht nur gesellschaftliche Verantwortung, sondern erschließen auch erhebliche neue Geschäftspotenziale.
Durch die konsequente Anwendung der DIN 77230 konnen sie „Noise“ am Fundament eliminieren und so eine Ara einleiten, in der Finanzdienstleistungen die finanzielle Gesundheit auf breiter Ebene fördern.