Lasst uns an Standards statt an Regulierung arbeiten

Veröffentlicht von: Martin Klein, Vice-Chairman von FECIF und Chairman von VOTUM


Die europäische Finanzdienstleistungsbranche beklagt zu Recht die sich ständig schneller drehende
Regulierungsschraube. Die EU-Kommission verstärkt den Eindruck, dass Regulierung zum Selbstzweck
der fortlaufenden Beschäftigung von Beamten betrieben wird und nicht zum Nutzen von Verbrauchern und Unternehmen.

Der Regulierungsappetit der Kommission mit ihren 33.000 Beamten zeigt sich insbesondere an der
ausufernden Praxis, bestehende Richtlinien, wie etwa die MiFID II oder die IDD durch eine Vielzahl von
Blackbox-Ermächtigungen zu ergänzen, die die EU-Kommission zum Erlass von Level 2 Verordnungen
im unbestimmten Ausmaß befugt.

Vor diesem Hintergrund stößt die Initiative zur Erarbeitung europäischer Standards für Finanzdienstleistungen auf verständliches Misstrauen. „Wir haben doch schon so viele Regeln, warum sollen wir jetzt noch selbst weitere obendrauf legen?“ So reagieren viele, denen ich von der Gründung des neuen Technical Committee 475 Finance beim europäischen Komitee für Normung CEN erzähle.

Ja wir haben bereits viele Regeln, aber diese sind häufig die falschen, mit denen das Gegenteil des
Gewollten erreicht wird. So haben bspw. ausufernde Informationsvorschriften dazu geführt, dass
Verkaufsprospekte von Finanzdienstleistungsprodukten hunderte Seiten stark sind, der Kleinanleger
das Wesentliche aber nicht erkennen kann. Berater sollen die Nachhaltigkeitspräferenz des Anlegers
ermitteln und dabei die Taxonomieverordnung und die Offenlegungsverordnung erläutern.

Durch solche Gesetze werden Anleger abgeschreckt und das Ergebnis ist eine Kapitalmarktbeteiligung
der Europäer, die gerade einmal einem Drittel der Beteiligungsquote der US-Bevölkerung entspricht.
Das Fernbleiben vom Finanzmarkt führt tatsächlich bei vielen Sparern zu einem Armutsrisiko.
Eine übervorsichtige Anlagementalität, die die Risiken von langen Ansparprozessen am Kapitalmarkt
überbewertet, führt zu schmerzlichen Ertragseinbußen beim wichtigen Ziel des Aufbaus einer
ergänzenden privaten Altersvorsorge.

Aktuell wird in Europa mit der Retail Investment Strategy die nächste Regulierungsinitiative verfolgt,
welche das Ziel hat, das Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt und die angebotenen Anlageberatung zu stärken. Den Beleg, dass dies durch diesen neuen Bürokratieschub gelingen kann, bleiben
sowohl EU-Kommission als auch das Parlament schuldig.

Tragen wir selbst Mitverantwortung dafür, dass die aktuelle Situation eine so unerfreuliche ist?
Leider ja! Wir haben die Regulierung von Beratungsabläufen und Produktinformationen den
Technokraten und Beamten der EU-Kommission überlassen. Keiner dieser Beamten hat je ein
Beratungsgespräch mit einem Anleger durchgeführt. Viele von Ihnen haben selbst keine Affinität
gegenüber Kapitalanlagen und stehen diesen eher ablehnend und skeptisch gegenüber.

Andere Industriezweige sind klüger vorgegangen. Sie haben insbesondere technische Qualitätsstandards eigenständig in ankerkannte Normungsverfahren im gemeinsamen Konsens der Marktteilnehmer entwickelt. Durch eine freiwillige aber häufig flächendeckende Umsetzung dieser Standards wurde eine gesetzliche Regulierung entbehrlich oder aber der Industriestandard wurde zur Gesetzesgrundlage. Es gilt die Regel: Wer die Norm macht, hat den Markt. Gerade China nutzt daher die Vorreiterschaft bei der Normung, um Märkte für sich zu erschließen.

Es ist bekannt, dass anerkannte Standards ein hervorragendes Instrument sind, um das Vertrauen der
Verbraucher in Produkte und Dienstleistungen zu stärken. Standards machen Produkte und
Dienstleistungen vergleichbar. Sie definieren Qualitätsmaßstäbe und helfen bei der Suche nach
bedarfsgerechten Angeboten. Auf diese Weise tragen Normen zu mehr Zuverlässigkeit, Sicherheit und
Qualität bei. Sie helfen den Unternehmen, grenzüberschreitend im europäischen Binnenmarkt und
international zu agieren und neue Absatzmärkte zu erschließen. Gemeinsame Normen sorgen für den
Abbau von Handelshemmnissen, unterstützen die Öffnung der Märkte und steigern so die
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft.

Gleichzeitig ist die Standardisierung von Dienstleistungen ein geeignetes Instrument zur Erweiterung
des europäischen Binnenmarktes. In kaum einem anderen Dienstleistungsbereich ist das Vertrauen in
die Leistungsfähigkeit der Anbieter so notwendig wie im Finanzdienstleistungssektor. Wer einen
Vermögensaufbau zum Beispiel für seine Altersvorsorge plant, muss darauf vertrauen können, dass
Entscheidungen, die er jetzt trifft, sich aber erst in 30 Jahren oder später auswirken, von vornherein
auf der richtigen Grundlage getroffen werden und laufend überwacht werden können. Daher ist es
verwunderlich, dass für den Bereich der Finanzdienstleistungen an der Schnittstelle zum Anleger noch
keine europäischen Standards entwickelt wurden.

Die Etablierung des CEN TC 475 Finance soll ein erster Schritt in diese Richtung der selbstbestimmten
Eigenregulierung sein. Ziel ist es, Standards zu entwickeln, die tatsächlich geeignet sind das Vertrauen
der Anleger in Kapitalmarktinvestitionen zu stärken. Wir wollen mit marktgerechten Lösungen voran
gehen, anstatt schlechten Gesetzen hinterherhecheln. Wenn wir gegenüber der Politik belegen
können, dass wir uns selbst auf den richtigen Weg machen, müssen wir nicht ständig den nächsten
Regulierungsangriff fürchten, sondern kommen endlich vor die Welle.

Unser erstes Ziel ist die Entwicklung eines Standards für die Erhebung und den Vergleich nützlicher
Kundendaten. Die Erhebung von Daten muss dem Kunden dienen. Heute wird sie zu häufig nur dafür
genutzt, durch vorgegebene Antwortkategorien Haftungsrisiken der Berater auszuschließen.

Der Gesetzgeber fordert, dass eine vom Berater empfohlene Kapitalanlage oder Versicherung
„geeignet“ sowie den Wünschen und Bedürfnissen des Kunden entsprechen soll. Um das zu beurteilen,
braucht jeder Berater eine verlässliche und vollständige Datengrundlage. Dies ist vergleichbar mit dem
Blutbild, das der Arzt erhebt. Erst wenn er weiß, welche Blutwerte sein Patient hat, kann er problematische Abweichungen erkennen und eine geeignete Therapie empfehlen.

In Deutschland haben wir bereits sehr gute Erfahrungen mit dem „DIN Standard 77230 BasisFinanzanalyse für Privathaushalte“ gemacht. Berater, die diesen Standard anwenden, können ihren
Kunden aufzeigen, dass ihre Empfehlungen einer objektiv anerkannten Analyse entsprechen und nicht
mit Interessenkonflikten belastet sind. Das persönliche Geschäftsvolumen der Berater, die diesen Standard einsetzen, ist gestiegen. Wir wollen diesen Standard im CEN/TC 475 auf eine europäische Grundlage heben.

Diejenigen die dabei mitwirken wollen, sollten sich jetzt an ihre nationalen Normungs-Einrichtungen
wenden. Die erste Arbeits-Gruppe wird am 18.09.2024 ihre erste Sitzung haben. Ich würde mich über
eine breite Teilnahme unserer Branche in Europa freuen.

Der Autor ist Chairman des CEN/TC 475 Finance am CEN, Vice-Chairman von FECIF und Chairman von
VOTUM

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