Veröffentlicht von:
Replik auf Reiff (VersR 2024, 1313)
Versicherungsrecht
Aufsätze
Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski,
Berlin Der Autor istProfessor für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschaftsund Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.
I. Die Rangfolge der DIN 77230
Prof. Dr.Peter Reiff hat kürzlich in dieser Zeitschrift unter der obigen Überschrift eine tiefgehende Analyse zur DIN-Norm 77230 und der Haftung des Versicherungsvermittlers veröffentlicht.
Reiff, VersR 2024, 1313.
Seinen Überlegungen ist weitgehend zuzustimmen, nur bei einigen wenigen Fragen möchte ich ergänzen. Völlig zutreffend weist Reiff daraufhin, dass die DIN-Norm 77230 die Rangfolge regelt, nach der bei einem Privathaushalt die Finanzthemen aus dem Bereichen Absicherung, Vorsorge und Vermögensplanung dargestellt und mit Orientierungsgrößen versehen werden sollen. Die Norm folgt vier Prinzipien: Gegenwärtige Risiken vor zukünftigen Risiken (1), hohe vor niedrigen Risiken (2), unvermeidbare vor vermeidbaren Risiken (3), versicherungspflichtige vor nichtversicherungspflichtigen Risiken (4).
Ein einzelner Vermittler und auch ein einzelner Versicherer ware niemals in der Lage, eine solche Rangfolge zu entwickeln. Dazu bedarf es eines umfassenden Marktüberblicks und einer tiefgehenden Analyse von Lebens- und Existenzrisiken. Das Erarbeiten dieser Rangliste ist der eigentliche Wert der DIN 77230. In ihr verkorpert sich ein
Sachverstand, der überhaupt erst durch die Norm in die Versicherungs- und Vermittlungsmärkte getragen worden ist. Dies ist der Grund dafur, warum es sachgerecht ist, die Dienstleistungsnorm 77230 mit den technischen Normen, die das DIN-Institut bisher entwickelt hat, auf die gleiche Qualitätsstufe zu stellen.
II. Fragepflicht
Reiff meint, die DIN 77230 erfasse tatbestandlich nur die Fragepflicht des Versicherers aus §61 Abs.1 VVG. Diese
Schlussfolgerung ist überraschend, da Reiff selbst zuvor geklart hat, dass die DIN 77230 die Rangfolge mit den eben genannten vier Prinzipien beinhaltet. Dies bedeutet, dass ein Vermittler zunachst einmal Anlass hat, den VN
danach zu befragen, ob er über die vorrangige Berufsunfähigkeitsversicherung oder Privathaftpflichtversicherung
bereits verfügt, bevor er ihn über andere Risikoabsicherungen berat. Denn nur dann, wenn das der Fall ist, kann der Vermittler im Sinne der DIN 77230 mit der Befragung nach den Wünschen und Bedurfnissen des VN fortfahren. Andernfalls muss er ihn darauf hinweisen, dass er vorrangige Risiken noch gar nicht versichert hat. Er musste dem Kunden somit raten, zunachst einmal darüber nachzudenken, ob er nicht den vorrangigen Versicherungsbedarf – mit seiner Hilfe – abdecken will, bevor er über die von ihm gewünschte nachrangige Deckung nachdenken sollte.
Erst nachdem die Vorrangfrage geklärt ist, kann der Vermittler die weiteren Fragen im Sinne der DIN 77230 stellen. Im Fall der Nichtanwendung der DIN 77230, so Reiff, gehe es gar nicht um die falsche Beratung, sondern “nur” um eine Bedarfsanalyse. Das ist eine mit §§61 Abs.1, 63 VVG nicht zu vereinbarende Schlussfolgerung, denn ein Vermittler, der einem VN beispielsweise eine fondsgebundene Lebensversicherung vermittelt, berät notwendigerweise falsch, wenn er zuvor die Frage nach der vorrangigen Risikolebensversicherung und/oder der Privathaftpflichtversicherung nicht gestellt hat. Das würde der Vermittler nach der DIN 77230 aber tun. Es geht mit anderen Worten in diesen Fällen nicht um Beratungsfehler bezogen auf das vermittelte Produkt, sondern es geht darum, dass dem Kunden kein Hinweis darauf gegeben worden ist, dass er vorrangige Risiken versichert haben müsste, bevor er sich mit einem nachrangigen Deckungsschutz beschäftigt.
Erst dann, wenn ein Kunde über diese Informationen verfügt und sich trotzdem – gegen den Rat des Vermittlers –
für eine nachrangige Deckung entscheidet, ist der Vermittler enthaftet. Richtig ist, dass Fehlberatungen dieser
Art, die sich letztlich aus dem Abgleich mit der DIN 77230 ergeben, bisher nicht zum Gegenstand von Haftpflichtprozessen nach §63 VVG gemacht werden, weil den Kunden regelmäßig nicht bewusst ist, dass sie über eine vorrangige Versicherungsdeckung verfügen müssten. Ein VN, der beispielsweise mit seinem Fahrrad ein Kind umfährt und dadurch einen Beinbruch verursacht, wird kaum auf den Gedanken kommen, seinen Versicherungsvermittler nach §63 VVG auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, weil dieser versäumt hatte, den Kunden darauf hinzuweisen, dass er zunachst einmal eine Privathaftpflichtversicherung abschließen müsste. Branchenintern wird darauf hingewiesen, dass ca. 30% aller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland über keine Privathaftpflichtversicherung verfügen. Aller Wahrscheinlichkeit nach verfügen sie aber über andere Versicherungsverträge, die gegenüber der Privathaftpflichtversicherung nachrangig sind. In all diesen Fällen müssten bei eintretenden Privathaftpflichtschäden Vermittler, die auf diese Lücke nicht hingewiesen haben, nach §63 VVG auf Schadensersatz haften. Denn hatten sie auf diese Lücke hingewiesen, so wird, worauf Reiff zutreffend hinweist, vermutet, dass der Kunde einen pflichtgemäß erteilten Rat auch befolgt hätte.
III. Enthaftung des Vermittlers – Grenzen
Wenn das aber so ist, dann ware es für einen Vermittler naheliegend, nach der DIN 77230 zu befragen und darauf seine Beratung zu stützen, denn als Folge davon würde er über die Rangfolge der abzusichernden Risiken mit dem Kunden sprechen und das Ergebnis dokumentieren. Dies wurde in einer Vielzahl von Fällen, in denen die Rangfolge der DIN 77230 nicht beachtet wurde, zu einer Enthaftung des Vermittlers führen, weil der Kunde in diesen Fallen dem Vermittler nicht mehr vorwerfen könnte, dass er auf einen Deckungsschutz, der ihm im Schadensfall fehlt, vom Vermittler nicht hingewiesen wurde. Diese Zusammenhänge zeigen übrigens deutlich, dass die Frage nach dem Vor- oder Nachrang von zu versichernden Risiken notwendigerweise Teil der Beratung, die ein Vermittler schuldet, ist. Die Finanzanalyse der DIN 77230 ist allerdings – insoweit ist Reiff zuzustimmen – der Beratung über Umfang und Inhalt eines bestimmten Versicherungsprodukts vorgelagert. Dennoch ist diese vorgelagerte Frage Teil der Beratungspflicht nach §61 VVG. Wenn und soweit dieser Teil der Beratung, der meist am Anfang steht, verletzt wird, lost dies den Anspruch auf Schadensersatz nach §63 VVG notwendig aus. Hat ein VN beispielsweise eine Unfallversicherung geschlossen, obwohl er noch keine Privathaftpflichtversicherung hat, so wurde der Anspruch nach §63 VVG darauf gerichtet sein, die Unfallversicherung rückwirkend aufzuheben und an ihre Stelle (Naturalrestitution) eine Privathaftpflichtversicherung zu setzen. Ist der Haftpflichtschaden eingetreten, besteht aber keine Privathaftpflichtversicherung, so würde nun der Vermittler auf Ersatz des Schadens haften, der durch die Privathaftpflichtversicherung normalerweise abgedeckt gewesen ware. Auf diese Konsequenz weist Reiff auch selbst hin, wenn er schreibt, dass die DIN 77230 den Beratern helfe, die Bedarfsermittlung sicher vorzunehmen.
IV. Die Beziehung zur Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung
Ein Vermittler, der wissentlich und willentlich auf die Beratung im Sinne der Rangfolge der DIN 77230 verzichtet
und stattdessen ein Produkt vermittelt, das nachrangig ist, kann sich im Schadensersatzprozess nach §63 VVG wegen fehlenden Deckungsschutzes der vorrangigen Versicherung kaum darauf berufen, dass die Pflichtverletzung nicht wissentlich gewesen ist. Wie will er das begründen?
Er muss, will er den VN bestmoglich beraten (§1a VVG), die Risikorangfolge im Sinne der DIN 77230 beachten und mit dem VN diskutieren. Da er dies als sorgfaltiger und kompetenter Vermittler weiß, wird er sich gegenüber seiner Vermögensschaden-Haftpflichtversicherer im Schadensfall kaum rechtfertigen können. Die Tatsache, dass einige Vermögensschaden-Haftpflichtversicherer inzwischen dem Vermittler einen Rabatt gewähren, wenn er mit der DIN 77230 arbeitet, belegt, dass diese Versicherer – völlig zu Recht – den Vermittlern einen Anreiz setzen wollen, um zu verhindern, dass es zu Fehlberatungen und daraus resultierenden Rechtsstreitigkeiten zwischen ihnen und den Vermittlern kommen könnte. Darin liegt aber kein Verzicht auf den Einwand der wissentlichen Pflichtverletzung.
V. Schutz von Kunde und Vermittler
Im Ergebnis ist also mit Reiff darauf hinzuweisen, dass ein mittels der DIN 77230 zutreffend ermittelter Bedarf eine gute Basis für eine richtige und haftungssichere Beratung ist. Zumindest die Rangfolge im Risikomanagement von Kunden wird beachtet. Daneben können – ohne Zweifel – Beratungsfehler mit Blick auf die empfohlenen Produkte entstehen. Allerdings ist es nun der Kunde, der dem Berater den Vermittlungsfehler nachweisen müsste. So gesehen diszipliniert die DIN 77230 nicht nur den Vermittler, sondern schützt den Kunden, indem die Norm für eine kompetente Finanzanalyse und Rangfolge sorgt und damit den Grundstein für eine darauf aufbauende kundengerechte Beratung legt.